Heft 4 / 2022: "offenes Heft"

Max Haller / Nico Tackner

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Warum will man (nicht) österreichische/r Staatsbürgerin oder Staatsbürger werden? Eine empirische Untersuchung in Wien

Österreich hat einen der höchsten Anteile an Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft in der Europäischen Union, in Wien beträgt er nahezu ein Drittel der Bevölkerung. Die Staatsbürgerschaft eins Landes, in dem man lebt, nicht zu besitzen, ist für die Betroffenen nachteilig und demokratiepolitisch ein Problem. In diesem Beitrag wird untersucht, warum so wenige Zugezogene um die österreichische Staatsbürgerschaft ansuchen, obwohl viele die Voraussetzungen dafür erfüllen. Die Studie geht von der Hypothese aus, dass drei Gründe relevant sind: instrumentell-nutzenorientierte Überlegungen, die Bindung an das Herkunftsland sowie gesetzliche und administrative Vorgaben für den Erwerb. Im Rahmen der Untersuchung erfolgte hierzu eine standardisierte Befragung von 502 in Wien lebenden ausländischen Staatsangehörigen, ergänzend wurden 31 qualitative Interviews zum Einwanderungsprozess durchgeführt. Es ergab sich, dass Staatsangehörige der EU-15-Staaten (hierbei besonders Deutsche) weniger an der Einbürgerung interessiert sind als jene aus anderen Herkunftsländern. Daneben sind auch die nationale Identität und das Interesse an politischer Teilhabe entscheidend für das Einbürgerungsinteresse. Schließlich spielen die sehr anspruchsvollen gesetzlich-administrativen Voraussetzungen eine hemmende Rolle. Es zeigt sich also, dass alle drei genannten Gründe eine Rolle spielen.

Why Do People (Not) Wish to Become Austrian Citizens? An Empirical Study in Vienna

Austria has one of the highest proportions of inhabitants with a foreign citizenship; in Vienna nearly one third. Lack of citizenship of the country-of-living represents a disadvantage for the persons involved and a problem for the democratic quality of the country. This study investigates why not more immigrants are applying for the Austrian citizenship, despite the fact that many of them fulfill the formal requirements. We start from the hypothesis that three factors appear to be relevant: instrumental reasons (the utility of citizenship), the identification with the country of origin, and the legal-administrative preconditions for the attainment of citizenship. A standardized survey among 502 foreign citizens living in Vienna and 31 qualitative interviews were conducted. The findings show that the interest is much lower among citizens of EU-15-states (in particalular Germans) than among those coming from other countries. In addition, national identity and the interest in political participation are decisive for an interest in citizenship. Furthermore, the restrictive Austrian citizenship law and administrative procedures inhibit a greater interest. All three hypothese were confirmed to some degree.

Marion Weigl / Sabine Haas / Petra Winkler

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Roma-Familien als Zielgruppe der Frühen Hilfen – Ergebnisse eines partizipativen Forschungsprojekts

Roma, Sinti und andere Gruppen, wie z. B. Lovara, stellen gemeinsam die größte Minderheit Europas dar. Aktuelle Literatur bestätigt, dass Romnja und Roma oft unter prekären Lebensumständen leben und in Europa seit langer Zeit Diskriminierung erleben. Dies wirkt sich negativ auf die Gesundheit aus. Beides hat wiederum negative Folgen für die soziale Inklusion. Das österreichische Programm Frühe Hilfen richtet sich an Familien in belastenden Lebenslagen – mit Frauen mit einer Schwangerschaft oder mit Kindern bis drei Jahren. Das frühzeitige Erkennen und Intervenieren soll zu einer Verbesserung der aktuellen Lebenssituation, zum gesunden Aufwachsen sowie langfristig zu gesellschaftlicher Teilhabe und gesundheitlicher Chancengerechtigkeit beitragen. In einem Forschungsprojekt wurde daher untersucht, ob das Programm geeignet ist, Roma-Familien genauso zu unterstützen wie andere Familien, und ob spezifische Aspekte zu berücksichtigen sind.

Roma Families as Target Group of the Austrian Early Childhood Intervention Programme – Results of a Participatory Research Project

Roma, Sinti and other groups, such as Lovara, together are constituting the largest minority in Europe. The current literature confirms that these groups often live in precarious living conditions and have experienced for long also discrimination. This places a negative impact on health. Both in turn have negative consequences for social inclusion. The Austrian Early Childhood Intervention Programme addresses families in stressful life situations – women with a pregnancy or children in early childhood (0–3 years). Early detection and intervention are intended to contribute to an improvement of the current life situation, to growing up healthy, and in the long run, to social participation and to equal opportunities also in health. A research project, therefore, investigated whether the programme ist suitable for supporting Roma families in the same way as it has other families and whether specific aspects need to be taken particulary in account.

Fabiola Gattringer / Dominik Gruber / Martin Böhm

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Psychosoziale Versorgung und Vorsorge in Krisenzeiten

Mit dem Beginn der COVID-19-Pandemie 2020 gingen drastische Einschnitte und Veränderungen der Gewohnheiten in allen Lebensbereichen einher, die auch Organisationen des Sozial- und Gesundheitsweisens sowie ihre KlientInnen und MitarbeiterInnen vor große Herausforderungen stellten. Zu insgesamt drei Zeitpunkten, im Abstand von jeweils drei Monaten, wurden in einem großen oberösterreichischen Sozialunternehmen (pro mente OÖ) Führungskräfte (n = 84), MitarbeiterInnen (n = 729) und KlientInnen (n = 712) über Auswirkungen und Herausforderungen während des ersten COVID-19-Pandemiejahrs 2020 qualitativ und quantitativ befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass durch die frühe interne Auseinandersetzung mit den drastischen Veränderungen die Arbeitsweise und die Arbeitsprozesse nachhaltig verändert wurden. Dadurch wird verlässliche Versorgung, Prävention und Krisenvorsorge gewährleistet.

Psychosocial Care and Prevention in Times of Crisis

The start of the COVID-19 pandemic (in 2020) was accompanied by drastic cuts and changes in habits, in all areas of life, which also posed great challenges for social and health care providers, as well as their clients and employees. At three points in time, always three months apart, executives (n = 84), employees (n = 729) and clients (n = 712) in a large Upper Austrian social enterprise (pro mente ooe) were qualitatively and quantitatively surveyed about effects and challenges during the first year of the COVID-19 pandemic. The results show that work processes were permanently changed as a result of the early internal confrontation with the drastic changes. This ensures reliable care and crisis prevention.

Petra Aigner / Johann Bacher / Katrin Hasengruber / Roman Pfeiler / Chigozie Nnebedum

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Familien mit Migrationshintergrund und die Herausforderungen des Corona-bedingten Homeschoolings. Eine Typologie unterschiedlicher Bewältigungsstrategien zwischen innovativem Krisenmanagement und Dysfunktionalität 

Die COVID-19-Pandemie belastet seit Frühjahr 2020 nicht nur die Gesundheits- und Wirtschaftssysteme weltweit, sondern nimmt auch maßgeblichen Einfluss auf den Bildungsbereich. So führt sie immer wieder zu Schulschließungen und Homeschooling als Ersatzunterricht. Monatelang anhaltendes Distance-Learning habe bereits bestehende Dynamiken der sozialen Bildungsbenachteiligung weiter verstärkt, so der allgemeine Konsens, besonders seien aber Familien mit Migrationshintergrund hiervon häufiger betroffen. Der vorliegende Beitrag untersucht die subjektiv wahrgenommenen, im Zusammenhang mit den Corona-bedingten Homeschooling-Prozessen entstandenen Herausforderungen für Familien mit Migrationshintergrund. Hierbei werden die Interdependenzen, aber auch die Auswirkungen der den Familien zur Verfügung stehenden Ressourcen, wie beispielsweise der elterliche Bildungshintergrund oder die sozioökonomische Situation der Familien, dahingehend analysiert, wie sich diese auf die Bewältigungsmechanismen im genannten Zeitraum während der Schul-Lockdowns auswirkten.

Families with Migratory Background and the Challenges of Corona-related Homeschooling. A Typology of Differing Coping Strategies Ranging from Innovative Crisis Management to Dysfunctionality

Since spring 2020, the COVID-19 pandemic has not only had an effect on health and economic systems wordwide, but continues to place a significant impact on the education sector. The pandemic repeatedly led to school closures and subsequent homeschooling procedures. Long periods of distance learning further intensified existing dynamics of social educational disadvantages, especially for families with a migratory background. This article examines the subjectively perceived challenges faced by these families. Available resources, such as the parents‘ educational background or the socio-economic situation of families, are being analyzed in order to identify how of this had effects on the coping mechanismus of families during the school lockdowns.

Gerit Götzenbrucker

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Zwischen friedlichem Wandel und radikaler Freundlichkeit – zur Genese der Fridays-for-Future-Klimagerechtigkeitsproteste in jugendlichen Lebenswelten

Der Artikel beantwortet Fragen zu Genese, Performanz und Wandel der Wiener Fridays-for-Future-Bewegung unter dem Vorzeichen der Corona-Pandemie. Insbesondere ihre Selbstwahrnehmung wird im Abgleich mit der Fremdwahrnehmung durch außenstehende Gruppen auf Basis qualitativer Leitfadeninterviews, Beobachtungen und Bildbeschreibungen untersucht. Neben der Pandemie-Resistenz kommen (neue) Aktivismen und Fragen in die Diskussion: inwieweit die Klimagerechtigkeitsforderung als sozial angemessen wahrgenommen wird; welche alternativen Problemlagen Jugendliche in Wien beschäftigen, und ob ein erweiterter Kreis von engagierten Jugendlichen für Klima-Anliegen gewonnen werden kann. Spezielles Augenmerk wird auf die Motivlagen und Protest-Repertoires sowie Distinktionspraxen und Rechtfertigungsstrategien gelegt und beispielhaft illustriert, wie sich der Wandel von pazifistischen zu radikaleren Aktivitäten vollzieht.

Between Peaceful Change and Radical Kindness – on the Formation of the Fridays for Future Cilimate Justice Protests in Young People’s Lives

The article provides answers for questions about the development, performance and change of the Viennese Fridays for Future movement under conditions of the Corona pandemic. In particular, the protagonists‘ self-perception is being examined in comparison with the perception of external groups on the basis of qualitative-in-depth-interviews, observations and image elicitations. In addition to pandemic restistance, questions about (new) activisms are further discussed: to what extent the demand for climate justice is to be perceived as socially appropriate; which alternative problems young people in Vienna are dealing with; and whether a wider circle of committed young people can be involved concerning climate issues. Special attention is placed on the motives and protest repertoires as well as practices of distinctions and justification strategies. Moreover, it is being illustrated, how the transition from pacifist to more radical activities is occurring.

Patrik Müller-Behme

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Jugend als Risiko: Beharrungen und Veränderungen von Jugenddevianz in der sozialen Ordnung Deutschlands

Gesellschaften problematisieren jugendliches Verhalten auf Grundlage normativer Erwartungen und Anforderungen einer sozialen Ordnung. Problematisiert werden etwa Kriminalität, Sexualität, Mediennutzung oder Konsumverhalten. Darauf bezogen repräsentiert die Heimerziehung der 1950er- bis 1970er-Jahre in Westdeutschland eine rigide Durchsetzung bürgerlicher Ordnungsvorstellungen. Mit den Auswirkungen der 1968er-Bewegung wird hingegen eine Liberalisierung dieser restriktiven soziale Kontrolle Jugendlicher assoziiert. Vor diesem Hintergrund werden in diesem Text Beharrungen und Veränderungen in der gesellschaftlichen Erzeugung von Jugenddevianz untersucht. Unter Rückgriff auf aktuelle Betrachtungen von Jugenddevianz werden Abweichungskonstruktionen aus hessischen Jugendamtsdokumenten der 1950er- bis Anfang der 1970er-Jahre analysiert. Danach wird ein Wandel von einer gefährlichen Jugend zu einer Jugend als Risiko herausgearbeitet. Normalität und Abweichung wird in der Risikoordnung durch die Differenzierung zwischen einem episodenhaft-erwartbaren und einem intensiviert-gefährlichen Risikohandeln hergestellt. Entstandene normative Freiheiten für junge Menschen werden durch die Logik des Risikos eingehegt.

Youth as Risk: Persistence and Change of Youth Deviance in the Social Order of Germany

Societies problematize youth behaviour based on normative expectations and requirements of a social order. Crime, sexuality, media use or consumer behaviour serve here as example. In this context, institutional care in West Germany (from the 1950s up until the 1970s) represents a rigid enforcement of bourgeois ideas of order. The impact of the 1968 movement, on the other hand, is associated with a liberalization of a restrictive social control of young people. Against this background, this text examines persistence and change in the social production of youth deviance. Drawing on current thinking about youth deviance, deviance constructions form juvenile justice documents (1950s to the early 1970s) are being analyzed. A shift can be elaborated from a dangerous-youth to a youth-at-risk. Normality and deviance are established in this risk order by differentiating between episodic-expectable and intensified-dangerous risk behaviours. Normative freedoms, which emerged for young people, are finally fenced-in by such a logic of risk.