Heft 2 / 2021: "Hannah Arendt - interdisziplinäre Perspektiven"

Birge Krondorfer

Abstracts

Handeln ist ein Wir und nicht ein Ich. Kleine Einführung ins politische Denken von Hannah Arendt

Diese Einführung will sich Hannah Arendts Denken, ihrem Selbstverständnis als Intellektuelle und Frau und ihrer Konzeption politischen Handelns annähern. Vornehmlich orientiert am Werk „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ bleiben die Ausführungen in Einklang mit dem Anliegen der politischen Theoretikerin, uns von der Welt her zu reflektieren und nicht umgekehrt. Ihre Befürchtung, es käme sonst zu „katastrophalen Zusammenbrüchen der gemeinsamen Welt“ verweist auf die Aktualität ihrer Sichtweise, jedes in sich geschlossene System mit selbstgewissen und widerspruchsfreien Ansprüchen für brandgefährlich zu halten. Geprägt von der uniformierenden und Unterschiede vernichtenden Naziherrschaft sind für Arendt gesellschaftliche Konformität, ökonomische Nützlichkeitsimperative und subjektive Befindlichkeiten keine Kriterien für öffentlich politisches Handeln. Als Korrektiv – nicht zuletzt auch für feministisch grundierte Denk- und Handlungsoptionen – eignen sich Arendts oft verblüffende Perspektiven allemal.

To Act is a We and Not an I. A Short Introduction to Hannah Arendt‘s Political Thinking

This introduction aims for approaching Hannah Arendt’s thinking, her self-concept as an intellectual, and as a woman as well as her concept of political action. Primarily orientated at her study „The Human Condition“, these considerations agree with Arendt‘s concern as a political theorist to reflect about us “from” the world and not in the opposite way. Her apprehension that otherwise there would result „catastrophic breakdowns of the common world“, indicates the actuality of Arendt‘s conception, in which each hermetic system, claiming self-assurance and consistency, is being considered as extremely dangerous. Impacted by the uniforming National Socialist regime that destroyed pluralistic differences, categories such as social conformity, imperatives of economic utilitarianism and subjective sensitivities do not qualify as criteria for public political action according to Arendt. Arendt’s frequently stupefying perspectives are an appropriate corrective – in the end even for feminist-based options of thinking and actions.

Caroline Krüger

Abstracts

Versuchen, in der Welt zuhause zu sein

Die Themen Verstehen, Freundschaft und Gespräch sind in Hannah Arendts Denken sehr präsent. Arendt begreift das Verstehen nicht als einen Endzustand, sondern als eine Praxis, eine Tätigkeit, durch die wir versuchen, in der Welt zuhause zu sein. Der Artikel nähert sich Arendts Begriff des „Verstehens“ an und geht der Frage nach den Zusammenhängen zwischen dem eigenen Denken, dem Streben nach Verstehen und der Funktion von Gesprächen nach.

Trying to Be at Home in the World

Understanding, friendship, and conversation are important topics in the work of Hannah Arendt. Arendt looks on understanding not as a static goal, but as a practice, as an activity through which we try to be at home in the world. The article approaches Arendt's concept of “understanding” and addresses the question of connections between one's own thinking, the pursuit of understanding and the function of conversations.

Maria Bussmann

Abstracts

Bilder für Hannah – ein Entstehungsprozess

Maria Bussmann kommentiert Philosophie mittels Zeichnung. Dieser Artikel stellt sowohl die Herangehensweise als auch die Bilder selbst vor. Zu Hannah Arendt entstanden zwei Serien (2006 und 2012), beide mit Bleistift auf Papier, aber zu ganz unterschiedlichen Themen. Arendts Begriff der „Natalität“ steht im Zentrum der ersten vierundzwanzigteiligen Serie, die den Namen „Lucy's toys“ trägt. Sie befasst sich mit Arendts Buch „Vita activa oder Vom tätigen Leben(1960, englische Originalpublikation: „The Human Condition“ 1958). Teilweise im buchstäblichen Sinn, teils ironisch und humorvoll kombiniert Bussmann die Baby-Spielsachen ihrer (damals) neu geborenen Tochter mit dem, was Julia Kristeva als Arendts wichtigsten Beitrag zur Philosophie bezeichnete, nämlich der Natalität als Geschenk des Neuanfangs. Die zweite Serie mit sieben größer-formatigen Zeichnungen trägt den Titel „Hommage an Hannah Arendt“. Ein Nähkästchen von Bussmanns Großmutter wurde zur Inspiration für Zeichnungen zu Arendts Begriff der „Banalität des Bösen“. Die Zeichnungen fungieren als „Gedanken-Einfädler“, genau wie jenes kleine Utensil, das mit dem Profil einer Dame mit Locken (Hannah?) bekannt ist.

Pictures for Hannah – a Work in Progress

Maria Bussmann creates drawings about philosophy. This article introduces the approach for this and the images themselves. About Hannah Arendt two series were made (2006 and 2012), both with pencil on paper, but on very different topics. Arendt's concept of “natality” is at the center of the first twenty-four-part series called “Lucy's toys”. It deals with terms from Arendt‘s book “The Human Condition” (1958, published in German as „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ in 1960), partly in a literal sense, partly ironically and humorously. Bussmann combines the baby toys of her (then) newly born daughter with what Julia Kristeva described as Arendt's most important contribution to philosophy, namely natality as a gift of a new beginning. The second series with seven large-format drawings is entitled “Homage to Hannah Arendt”. A sewing box from Bussmann's grandmother became the inspiration for drawings of Arendt's concept of “Banality of Evil”. The drawings act as “thought-threaders”, just like the little instrument that is familiar with the profile of a curly-haired lady (Hannah?).

Sophie Uitz

Abstracts

Bedingte Politik, prekäres Recht: Zur Aktualität eines handlungsbasierten Politikverständnisses

Zwei zentrale Thesen, die Hannah Arendt Mitte des 20. Jahrhunderts zu Politik verfasst hat, lauten, dass diese nicht selbstverständlich gegeben ist, sondern erst zwischen Menschen entstehen muss, und dass politisches Handeln von Pluralität sowie der Möglichkeit bedingt ist, als freier Mensch mit anderen zu handeln. Der Artikel überprüft zunächst dieses Denken von Politik als bedingtes, relationales Ereignis auf seine Aktualität. Es wird gezeigt, dass Arendts handlungsbasiertes Denken von Politik auf einer Grenzziehung von Politik beruht, die auch Ausschlüsse aus dem Politischen impliziert. Der Beitrag wendet sich kritisch an diese Grenzziehung und den Mechanismus der Ausgrenzung und zeigt, dass ein von Arendt gefordertes Recht auf politische Teilhabe prekär verfasst bleiben muss. Ihr Politikbegriff wird dafür im Zusammenhang damit diskutiert, was Arendt als „Aporie der Menschenrechte“ bezeichnet hat, und fragt abschließend, welches Potenzial und welche Probleme ein auf Pluralität und gemeinsamem Handeln basiertes Politikverständnis heute birgt.

Conditional Politics, Precarious Right: On the Topicality of an Understanding of Action-based Politics

Two central theses, which Hannah Arendt articulated in the middle of the twentieth century, are that politics is never to be taken for granted, but must initially come into being between people, and that political action is conditioned by plurality and by the possibility to act in concert as a free human with others. The article first reviews this thinking of politics as a conditional, relational event for its topicality. It is then shown that Arendt's action-based thinking of politics is based on a demarcation of politics that also implies exclusions from the political. Then, the contribution critically addresses the mechanisms of exclusion and shows that a right to political participation, as demanded by Arendt, must remain precariously constituted. Furthermore, the concept of politics in the context of what Arendt calls the “aporia of human rights” is discussed and it is being asked, what potential and problems an understanding of politics based on plurality and common action holds today.

Stefania Maffeis

Abstracts

Das Recht auf Rechte der Migration und die Ordnung der Solidarität

Angesichts der gegenwärtigen Krise des globalen Gesundheits- und Migrationsregimes wird in diesem Aufsatz die Möglichkeit reflektiert, Menschenrechte von einem alternativen Ausgangspunkt zum Souveränitätsparadigma aus zu betrachten. Dieses Paradigma führt zu einem Kampf zwischen individuellen und staatlichen Souveränitätsinstanzen, der der Struktur moderner nationaler Staatssysteme inhärent ist. Hannah Arendts Figur des Rechts, Rechte zu haben, erlaubt es, das Dilemma dialektisch zu überwinden und alternative politische Ordnungen zu konzipieren, die auf Solidarität und Relationalität statt auf Souveränität basieren. Nach einer ersten Diskussion dieser Figur in Arendts Philosophie werden zwei mögliche Interpretationen diskutiert, die als „normativ-legalistisch“ und als „agonistisch“ bezeichnet werden können. Der Aufsatz plädiert für die agonistische Lesart als Möglichkeit, relationale kosmopolitische Ordnungen der Solidarität zu konzipieren. Schließlich wird die Bewegung der solidarischen Städte in Europa als konkretes Beispiel für eine relationale kosmopolitische Ordnung der Solidarität dargestellt.

The Right to Have Rights of Migration and the Order of Solidarity

In light of the current crisis of the global health and migration regime, this article reflects on the possibility of looking at human rights from an alternative starting point in reference to the sovereignty paradigm. This paradigm leads to a struggle between individual and state authorities of sovereignty that is inherent in the structure of modern nation-state systems. Hannah Arendt's figure of the right to have rights allows us to overcome the dilemma dialectically and to conceive alternative political orders that are based on solidarity and relationality, rather than sovereignty. After an initial discussion of this figure in Arendt's philosophy, two possible interpretations are discussed, which can be described as “normative-legalistic” and “agonistic”. The contribution argues for the agonistic reading as a way of conceiving relational cosmopolitan orders of solidarity. Finally, the solidarity-cities-movement in Europe is presented as a concrete example of a relational cosmopolitan order of solidarity.

Gesine Schwan

Abstracts

Die Macht der Gemeinsamkeit – Essay

Gesine Schwans Essay „Die Macht der Gemeinsamkeit“ erschien ursprünglich 2006 anlässlich des 100. Geburtstags von Hannah Arendt in Heft 39 der von der deutschen Bundeszentrale für Politische Bildung herausgegebenen Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte. Schwan befasst sich hier mit Arendt als Vordenkerin für Global Governance und zeigt bezugnehmend auf Texte der Philosophin auf, wie im Zeitalter des nationalstaatlichen Machtverlusts politische Herrschaft neu begründet und legitimiert werden kann: Die Autorin verweist auf eine demokratische Politik, die es Menschen weltweit im größtmöglichen Maß und in prinzipieller Gleichberechtigung ermöglichen kann, ihr Leben selbstbestimmt und mit politischer Teilnahme im Rahmen von Sicherheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu führen. Arendts Ausführungen zu Wahrheit und das Bemühen um Wahrheit bilden demnach die Grundlage für Macht und Gemeinsamkeit sowie gesellschaftlichen Zusammenhalt.

An Essay on The Power of Togetherness

Gesine Schwans essay on „The Power of Togetherness“ was first published in issue no. 39 of the German journal Aus Politik und Zeitgeschichte (Bundeszentrale für Politische Bildung, ed.) on the occasion of Hannah Arendt‘s centenary in 2006. Schwan deals with Arendt as an intellectual pioneer of global governance and indicates with regard to contributions of her oeuvre, how political rule can be re-established and justified in the age of nation-states‘ loss of power. The author refers to democratic politics that enable men all over the world to the highest possible degree and based on principal equality to live politically self-determined in the framework of security, justice and solidarity. Arendt‘s thought concerning truth and the effort for truth therefor are considered as the fundament of power, togetherness and societal cohesion.

Christina Thürmer-Rohr

Abstracts

Anfreunden mit der Welt – einer Welt in Scherben. Pluralität im politischen Denken von Hannah Arendt

Christina Thürmer-Rohrs Beitrag „Anfreunden mit der Welt – einer Welt in Scherben. Pluralität im politischen Denken von Hannah Arendt“ erschien erstmals 2016 als Vortragsmanuskript bei Spree-Athen e.V. in Berlin. Thürmer-Rohr geht davon aus, dass Arendts Gedanken über Anfreundung mit der Welt und über Pluralität als deren Voraussetzung dazu herausfordern, zu Grundfragen des Politischen zurückzukehren: Sie kreist in sechs Abschnitten den Bereich ein, der sich in Arendts Denk-Zusammenhängen um Pluralität bildet – Freundschaft, Gleichheit, Assimilation, Der Fall Eichmann, Welt und Anfreundung. Anfreundung als Offenheit zur Welt und als grundsätzliches Vertrauen in die Zwischenmenschlichkeit lässt sich demnach auch nicht dadurch beirren, dass die Menschen an der Welt zugrunde gehen können.

To Befriend the World – a World in Shards. Plurality in the Political Thinking of Hannah Arendt

Christina Thürmer Rohr‘s contribution „To Befriend the World – World in Shards. Plurality in the Political Thinking of Hannah Arendt“ was first published as a lecture manuscript for Spree-Athen e. V. in Berlin in 2016. Her starting point is that Arendt‘s conceptions of befriending the world and of plurality as its prerequisite are a challenge to return to fundamental questions of the political. She surrounds six sections of the field of Arendt’s thinking of plurality – friendship, equality, assimilation, the case of Eichmann, world and befriending. To befriend the world as openness to the world and as fundamental trust in interhuman relations cannot even be misleaded by the fact, that mankind can perish due to the world.

Julia Hofmann / Hilde Weiss

Abstracts

Autoritarismus, soziale Dominanzorientierung und die Ablehnung von MigrantInnen: Ein empirischer Vergleich der Einstellungsmuster in Österreich und Ungarn

Im Artikel beschäftigen wir uns mit dem seit geraumer Zeit beobachteten Zuwachs rechtsnationalistischer bzw. rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen und untersuchen die dahinterliegenden Einstellungsmuster. Im Mittelpunkt stehen die Ablehnung von MigrantInnen, autoritäre Einstellungen und die Überhebung der eigenen Gruppe über Andere. Anhand eines Ländervergleichs (Auswertung repräsentativer Befragungen) zwischen Österreich und Ungarn gehen wir v. a. der Frage nach, wie stark Autoritarismus, soziale Dominanzorientierung und die Ablehnung von MigrantInnen verbreitet sind und wie sie zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Zur Erklärung dieser autoritären und ausgrenzenden Einstellungen wird insbesondere die Rolle der subjektiven ökonomischen Lage sowie von kollektiver Deprivation und politischen Ohnmachtsgefühlen in multivariaten Analysen (Pfadmodellen) geprüft.

Authoritarianism, Social Dominance Orientation and Negative Attitudes Towards Migrants: An Empirical Comparison of Attitude Structures Between Austria and Hungary

All over Europe, right-wing parties and political movements as well as authoritarian and anti-migrant attitudes are on the rise during the last years. The analysis presented in this article deals with these attitudes concerning authoritarianism, social dominance orientation and immigration, comparing representative samples of Austria and Hungary. It focuses on the interplay between these orientations, and examines the causal impact of factors like social position or social self-evaluation, relative collective deprivation und feelings of political powerlessness. Analyses of the attitude structures (structural equation models) show communalities of these authoritarian and excluding attitudes as well as different ways how these attitudes are interconnected and how they could be explained.