Heft 3 / 2022: "Stadtleben in Wien: Bedingungen, Akteur*innen, Befunde"

Richard Bärnthaler / Benjamin Baumgartner

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Lebensweisen und Infrastrukturen: transformative Innovationen für eine zukunftsfähige Alltagsökonomie am Beispiel Atzgersdorf

Dieser Beitrag untersucht innovative und kontextspezifische Strategien für eine zukunftsfähige Stadtentwicklung in Wien. Dabei stützen wir uns auf den Begriff der „transformativen Innovation“. Dieser verknüpft einen alltagsökonomischen Innovationszugang, d. h. die qualitativ hochwertige und inklusive Befriedigung kurzfristiger Alltagsbedürfnisse (insbesondere durch kollektiven Konsum), mit langfristigen ökologischen Notwendigkeiten. Vermeintlich „ökologische“ Umweltpolitik wird so zu einer mehrheitsfähigen sozialökologischen Mitweltpoltik, d. h. zu einer Politik, die an konkreten – und immer schon durch biophysikalische Bedingungen materiell vermittelten – Alltagserfahrungen ansetzt. Daran anknüpfend untersucht der Beitrag Ansatzpunkte für transformative Innovationen am Fallbeispiel Atzgersdorf. Dessen Analyse zeigt (1), wie die Befriedigung gemeinsamer Alltagsbedürfnisse, insbesondere die Stärkung der erweiterten Nahversorgung, zu einem sozialökologisch besseren gesellschaftlichen Naturverhältnis im Sinn einer Nachbarschaft der kurzen Wege beitragen kann. Um dieses Potenzial zu realisieren, problematisieren wir (2) strukturelle Hindernisse, insbesondere die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs, und erkunden (3) konkrete Pfade, um diese Hindernisse effektiv zu überwinden und zukunftsfähige Lebensformen zu fördern.

Modes of Living and Infrastructures: Transformative Innovations for a Sustainable Foundational Economy in Vienna – the Case of Atzgersdorf

This article investigates innovative and context-specific strategies for sustainable development in Vienna, advancing a new understanding of innovation. Transformative innovations combine a foundational understanding of innovation, i. e. the high-quality and inclusive satisfaction of short-term everyday needs, (especially through collective consumption), with long-term ecological necessities. „Environmental“ policy thus becomes social-ecological policy with the potential to attract democratic majorities. Based on this, we examine strategies for transformative innovations in Atzgersdorf. The case-study analysis shows (1) how the satisfaction of collectively self-defined everyday needs in the neighbourhood, in particular the strengthening of parts of non-essential local provisioning, can contribute to a social-ecologically better society-nature relationship in the sense of a neighbourhood of short distances. To realize this potential, we problematize (2) structural obstacles, in particular the dominance of motorized individual transport, and explore (3) concrete pathways to effectively overcome these obstacles and establish new modes of living.

Astrid Pennerstorfer / Michaela Neumayr

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Institutionelle Kinderbetreuung in Wien: Kosten und räumliche Zugänglichkeit zu privaten und öffentlichen Einrichtungen

Institutionelle Kinderbetreuung leistet einen wichtigen Beitrag zur frühkindlichen Entwicklung und trägt, wenn sie qualitativ hochwertig und flächendecken angeboten wird, zum Abbau sozialer Ungleichheit bei. Für Wien zeigt sich jedoch, dass für Kinder, die in einem „reicheren“ Wohnviertel aufwachsen, mehr Kindergärtenplätze in räumlicher Nähe zur Verfügung stehen als für Kinder in „ärmeren“ Wohnvierteln. Der Beitrag stellt dar, wie sich öffentliche und verschiedene private Kindergärten und -krippen in Wien bezüglich ihrer räumlichen Zugänglichkeit unterscheiden. Weiters wird untersucht, wie Betreiber von Kinderbetreuungseinrichtungen hinsichtlich ihrer Preissetzung und anderer Strukturmerkmale – etwa Öffnungszeiten – voneinander abweichen. Die Analyse beruht auf Daten über die räumliche Lage und verschiedene Strukturmerkmale von Kinderbetreuungseinrichtungen in Wien. Wir finden, dass die höhere Zugänglichkeit zu Kinderbetreuung in „reicheren“ Wohnvierteln fast ausschließlich durch das Angebot der Gruppe der meist kleineren, gemeinnützigen Betreiber entsteht. Dies lässt sich v. a. dadurch erklären, dass sie dort auf größere Geld- und Zeitressourcen der Eltern treffen. Aus Sicht der Kindergartenbetreiber scheint es, dass die öffentlichen Förderungen nicht ausreichen, um Kinderbetreuung in der gewünschten Qualität zur Verfügung zu stellen.

Institutional Childcare in Vienna: Costs and Spatial Accessibility to Private and Public Facilities

Institutional childcare is increasingly recognized for its important contribution to early childhood development. It also has the potential to reduce social inequality, if it is offered in a high-quality and comprehensive manner. However, data for Vienna show that the spatial accessibility of childcare facilities varies between residential areas with different socioeconomic status. That is, children living in a „richer“ area enjoy a greater accessibility to childcare than children living in a „poorer“ area. The research note presents how individual and private provider types of childcare differ in terms of their spatial accessibility. Furthermore, it examines how childcare providers differ in terms of their pricing and other structural charcteristics. The analysis is based on data on the spatial location, price, and other structural characteristics of child care facilities in Vienna. We find that the higher accessibility to childcare in areas with higher socioeconmoc status is almost exclusively enabled by arrangements of mainly small, non-profit providers. The location choice of these providers in the more affluent districts can be explained by both higher money and time resorces of parents in these areas. From the perspective of private providers it seems that public subsidies are not sufficient to provide childcare of a desired quality.

Jana Reininger / Christoph Reinprecht

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Wohnen als Verortung in der Welt: Zu den prekären Wohnerfahrungen jugendlicher Geflüchteter in Wien

Junge geflüchtete Menschen sind nach ihrer Ankunft in Österreich mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, die sich im Bereich des Wohnens als Grundvoraussetzung für soziale Teilhabe manifestieren. Beginnend mit vorübergehenden Erstaufnahmestellen werden sie bereits früh mit Brüchen, Provisorien, Kurzzeitlösungen und Prekarität im Wohnen konfrontiert. Diese Eigenschaften ziehen sich auch durch die spätere Wohnbiografie junger Menschen nach der Flucht. In Wohnheimen, Wohngruppen sowie in betreuten und individuellen Wohnformen wird im Rahmen der Grundversorgung die rechtliche Obsorge minderjähriger Personen übernommen, bis diese mit Anbruch der Volljährigkeit ausziehen müssen. Die darauf folgende erste Selbstorganisation von Wohnen ist nicht nur ein Minenfeld von Barrieren und Diskriminierung, sondern junge Geflüchtete erleben hier auch oft wieder kurzfristige Wohnchancen, häufige Umbrüche sowie vermehrt Unsicherheit und Ungewissheit. Das Spannungsfeld zwischen Fremd- und Selbstbestimmung sorgt zudem für zusätzliche Herausforderungen. Die Verortung in einer fremden Welt ist ein schwieriges Unterfangen – um diese zu erreichen, bedienen sich junge Geflüchtete solidarischer Praktiken und der Allianzenbildung.

Housing as Localisation in the World: An Examination of Young Refugees‘ Precarious Housing Experiences in Vienna

Upon their arrival in Austria, young refugees face a variety of challenges that particularly manifest in areas of housing as a basic prerequisite of social participation. Starting with ad-hoc initial reception centers, refugees face temporality and precarity in housing from early on. They continue to be central elements in later housing biographies of young refugees. In the context of a basic supply, underage refugees are accommodated in dormitories, housing groups, also assisted or individual housing, until they have to move out as they become of legal age. Following afterward, the self-organisation of housing is fractured by various challenges and discriminations as well as short-term housing opportunities, frequent upheavals and a high level of insecurity and uncertainty. Changes between heteronomy and autonomy in housing lead to additional challenges. The localisation in a foreign world represents a difficult task. In order to achieve it nevertheless, young refugees make use of solidary practices and the formation of alliances.

Andreas Exner / Stephanie Arzberger / Livia Cepoiu / Carla Weinzierl / Clive Spash

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Die Stadt essbar regieren. Eine Analyse der Governance von Initiativen für eine Essbare Stadt mit besonderem Bezug auf Wien

In Essbaren Städten können alle Menschen auf öffentlichen und teilöffentlichen Flächen Lebensmittel ernten. Das Hauptziel von Initiativen für eine Essbare Stadt besteht darin, Lebensmittelsysteme zu transformieren. Diese Initiativen für eine Essbare Stadt sind in den letzten Jahren populär geworden, wurden aber noch kaum wissenschaftlich untersucht. Anders als Gemeinschaftsgärten unterstützt die Stadt Wien die Idee der Essbaren Stadt bislang nicht wesentlich. Der Artikel widmet sich vor diesem Hintergrund der Frage, wie Essbare-Stadt-Initiativen  entstehen, wer sie gründet, unterstützt oder behindert, sie sich entwickeln und welchen Einfluss sie auf das Verhältnis von Kommune und Zivilgesellschaft haben. Auf Basis von Interviews mit Akteur*innen aus Stadtverwaltungen, Stadtregierungen und der Zivilgesellschaft sowie Medienberichten zu Essbaren Städten in Österreich, Deutschland und Frankreich vergleicht der Artikel dahingehend die Konstellationen von Akteur*innen, politische Prozesse und deren Ergebnisse. Die Fallstudien dienen als Grundlage dafür, Governance-Arrangements zwischen Kommunen und der Zivilgesellschaft zu beschreiben und zu systematisieren. Initiativen für eine Essbare Stadt, die gemeinsam von Kommunen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen betrieben werden, haben das größte Potenzial, zivilgesellschaftliches Engagement, kollektive Ermächtigung und die Transformation urbaner Lebensmittelsysteme in Richtung auf eine nachhaltige Alltagsökonomie zu fördern.

How to Govern the Edible City: Analyzing the Governance of Edible Cities Initiatives Regarding the Potentials for Vienna

In edible cities, citizens are able to harvest food in public and semi-public spaces. The main goal of edible city initiatives is to transform food systems. These initiatives become popular in the last years, but have hardly been investigated scientifically. Contrary to community gardens, the City of Vienna does not substantially support the edible city idea as of yet. Against this backdrop, this article analyzes how edible city initiatives emerge, who is creating, supporting, oder impeding them, how they develop and in which ways they influence the relation between city government and administration on the one hand, and civil society on the other. Based on interviews with actors from city administrations, governments, and civil society,. taking into account media reports on edible cities in Austria, Germany and France, the article compares constellations of actors, political processes and their outcomes. Case studies are classified and described as governance arrangements between city administrations/governments and civil society actors offer the most significant potential to foster civic action, collective empowerment and the transformation of urban food systems in view of a sustainable foundational economy.

Lukas Richter / Horst Reiger

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Was determiniert die Lebenszufriedenheit im Alter? Relevanzstrukturen älterer Menschen in Wien

Internationale Forschungsergebnisse zeigen, dass die Determinanten von Lebenszufriedenheit in ihrer Wirkweise entlang sozioökonomischer und soziodemographischer Faktoren variieren und sie so im Lebensverlauf mehr oder weniger Einfluss auf die Zufriedenheit eines Menschen haben. Das Anliegen gewinnt an Komplexität, da soziokulturelle Kontextfaktoren zu beachten sind und dies die Zusammenhänge zwischen Lebensbedingungen und individueller Lebenszufriedenheit mitprägt. Daher bedarf es der Überprüfung auf lokaler Ebene, wie die Strukturen der Determinanten von Lebenszufriedenheit für ältere Menschen beschaffen sind. In diesem Beitrag werden mittels sequenzieller Regressionsanalysen die Determinationsstrukturen der Lebenszufriedenheit älterer Menschen in Wien herausgearbeitet. Als Vergleichsfolie wird zudem die Situation in Brüssel einbezogen. Aus den empirischen Ergebnissen lässt sich erkennen, dass die Gesundheit, gefolgt von sozialen Aktivitäten, materieller Deprivation und der Wohnumgebung die Lebenszufriedenheit älterer Menschen beeinflusst. Auch in Brüssel zeichnet sich eine ähnliche, aber leicht differenzierte Struktur ab. Der Beitrag liefert damit Erkenntnisse, wie die Determinanten von Lebenszufriedenheit älterer Menschen beschaffen sind, um so die zentralen Bedingungen eines guten Lebens zu verstehen.

What Determines Life Satisfaction in Old Age? Relevance Structures of Older People in Vienna

International research indicates that the determinants of life satisfaction vary in their influence according to socio-economic and socio-demographic factors and thus have a different effect on a person’s satisfaction over lifetime. The issue becomes more complex as socio-cultural contextual factors have to be taken into account and shape the relationship between living conditions and individual life satisfaction. Therefore, the structure of the determinants of life satisfaction for older people needs to be examined at the local level. In this article, the determinant structures of older people in Vienna are worked out by means of sequential regression analyses. The situation in Brussels is also included as a comparative foil. The empirical results show that health, followed by social activities, material deprivation and the living environment influence the life satisfaction of older people. In Brussels, a similar but slightly differing structure is found. The article provides insights into the determinants of life satisfaction of older people in Vienne in order to understand the central conditions of a good life.

Brigitte Temel / Sabrina Stranzl / Judith Laister

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„If I can’t spray, it’s not my revolution!“ Empowerment und Dynamisierung von Geschlechtergerechtigkeit durch partizipative Graffiti-Workshops mit Mädchen

Jede dritte Frau weltweit erlebt zumindest einmal in ihrem Leben physische oder sexualisierte Gewalt. Unter dem Motto #girlscan führte das Institut für Konfliktforschung (Wien) zusammen mit mehreren Kooperationspartner:innen 2021 ein Projekt durch, das Mädchen und junge Frauen an drei Standorten in Österreich für das Thema Gewalt sensibilisierte und mögliche Strategien der Bestärkung, des Widerstands und des Zusammenhangs erarbeitete. Höhepunkt des Projekts war die kollektive Gestaltung und Umsetzung von Graffitis. Darüber hinaus wurden ein Kurzfilm sowie ein Zine produziert und im Rahmen der das Projekt begleitenden Social-Media-Kampagne in verschiedenen Kanälen breit zirkuliert. Der vorliegende Artikel analysiert das partizipative Kunst-, Forschungs- und Bildungsprojekt aus der Perspektive einer Ästhetischen Anthropologie und mit Fokus auf eine potenzielle Dynamisierung von Geschlechtergerechtigkeit. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Interdependenzen zwischen physisch realer Aktion vor Ort, medialer Zirkulation und wissenschaftlicher Reflexion.

„If I can’t spray, it’s not my revolution!“ Empowerment and Dynamization of Gender Equality through Participatory Graffiti-Workshops with Girls

Every third woman worldwide experiences physical or sexual violence at least once in her life. Under the motto #girlscan, the Institute for Conflict Research (Vienna), together with several cooperation partners, carried out a project in 2021 that sensitized girls and young women at three locations in Austria in reference to issues of violence, and developed possible strategies of empowerment, resistance and cohesion. The highlight of the project was a collective design and implementation of graffiti. In addition, a short film and zine were produced and widely circulated in different channels, as part of the social media campaign accompanying the project. This article analyses the participatory art, research and education project from the perspective of an aesthetic anthropology, and with a focus on a potential dynamization of gender justice and equality. Special attention is paid to the interdependencies between physical real action on site, media circulation and theoretical reflection.