Ein „Mehr“ an Bürger*innennähe der Politik ist ein oftmals eingefordertes Credo im öffentlichen Diskurs rund um das „demokratische Defizit“ der EU. Gerade für die regionale Ebene wird Bürger*innennähe im Mehrebenensystem der EU häufig beansprucht und deklariert. Konzeptionell und empirisch ist Bürger*innennähe in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung bislang aber eher unterbeleuchtet. Unser Beitrag analysiert den Zusammenhang von Bürger*innennähe und dem Vertrauen in Parlamente auf verschiedenen Ebenen in der EU auf Basis einer Bevölkerungsbefragung in sechs Mitgliedsländern bzw. ausgewählten Regionen. In den Ergebnissen der Analyse zeigt sich, dass es nicht unbedingt der direkte Kontakt ist, der Vertrauen herstellen kann, sondern dass die Befragten vor allem wünschen, dass sich die Abgeordneten über Meinungen und Lebensumstände der Bürger*innen informiert zeigen.
Closeness to citizens is a frequently called-for-demand in the public discourse about the „democratic deficit“ of the EU nowadays. The subnational or regional level often is assumed to be closer to citizens compared to other levels in the EU. But still, the academic debate lacks a sound theoretical conceptualization and furthermore empirical measures for „closeness to citizens“. Based on a population survey in six EU member states and 12 selected regions, our article analyzes the relationship between closeness to citizens and trust in parliaments at the regional, national and European level. The results of analysis indicate that is not necessarily always the direct contact that can establish trust, but that the respondents primarily want members of parliament to be informed about the opinions and living conditions of their citizens.
Es ist wichtig für demokratische Gesellschaften, dass Menschen den Medien vertrauen können. Dies gilt insbesondere in Zeiten multipler Krisen. Forschungen zeigen, dass das allgemeine Vertrauen bei Krisen, die durch institutionelle Akteure verursacht wurden, sinkt. In Zeiten exogener Katastrophen kann hingegen das Vertrauen steigen und es ist stark kontext- und kulturabhängig, wie internationale Panelerhebungen wie der Eurobarometer aufzeigen können. Ausgehend von der Unterscheidung der vorherrschenden europäischen Mediensysteme soll anhand von fünf ausgewählten Ländern sowie aggregierten EU-Längsschnittdaten den Fragen nachgegangen werden, welchen Einfluss Krisen auf generelles institutionelles sowie mediales Vertrauen haben und welche individuellen Charakteristika und Einstellungen diese beeinflussen. Die deskriptiven Ergebnisse verdeutlichen nicht nur unterschiedliche Vertrauen-Niveaus zwischen den Ländern (Schweden sehr hohe Vertrauenswerte vs. Ungarn sehr geringe), sondern auch Differenzen in der Langzeitdynamik. Die (schwachen) Effekte verdeutlichen die starke Korrelation zwischen generellem Trust und Medienvertrauen über die Länder hinweg. Auf Grundlage der durchgeführten Regressionsanalysen lassen sich keine generalisierenden Indikatoren für Vertrauen in Europa identifizieren. Allerdings zeigt die Analyse, dass politische Einstellungen wie Demokratiezufriedenheit und politische Kompetenz- und Einflussüberzeugungen relevanter für das Vertrauen sind als Alter oder Bildung.
It is important for democratic societies that people can trust the media. This is especially true in times of multiple crises. Research shows that general trust decreases in crises caused by institutional actors, but can increase in times of exogenous catastrophes and can therefore be strongly context- and culture-dependent, as international panel surveys such as Eurobarometer do demonstrate. Based on distinctions of the prevailing European media systems, I will use five selected countries as well as aggregated EU longitudinal data to explore the questions which influences the crises have on general institutional as well as media trust and which individual characteristics and attitudes are being furthermore influenced. The descriptive results illustrate not only different trust levels acorss countries (Sweden very high trust values vs. Hungary very low), but also differences in long-term dynamics. The (weak) effects emphazise the strong correlation between general and media trust across countries. Based on the regression analyses that were conducted, no generalizing indicators of trust in Europa can be identified. However, the analysis makes clear that political attitudes such as satisfaction with democracy and efficacy are more relevant for trust than age or education.
Der Beitrag untersucht, inwieweit die 2018 beschlossene Reform der EU-Entsenderichtlinie für einen Richtungswechsel in der europäischen Arbeitsmarktpolitik steht. Die Ergebnisse legen nahe, dass auf europäischer Ebene wieder vermehrt eine regulative Politik zustande kommt, die auf eine „Wiedereinbettung“ von Marktkräften im Sinne der positiven Integration setzt. Entscheidend für das Zustandekommen der Reform waren die Rolle von „institutional entrepreneurs“, Interessenkoalitionen auf inter- und supranationaler Ebene sowie ein gesellschaftspolitisches Klima, welches in Richtung Pro-Regulierung umgeschlagen ist. In dieser Hinsicht steht die reformierte Entsenderichtline ebenso wie die jüngst beschlossene EU-Mindestlohnrichtline für einen Paradigmenwechsel in der europäischen Beschäftigungspolitik, die sich stärker am sozialen Ausgleich im Binnenmarkt orientiert.
This contribution examines whether the revision of the Posting of Workers Directive marks a new point of departure in European labour market policy. The results suggest that there is a trend towards regulative policies that seek to „re-embed“ market forces as envisaged by positive integration. The decisive factors that facilitated the revision were the role of „institutional entrepreneurs“, interest coalitions at the international and supranationel level and a socio-political climate that increasingly favours more regulation. As such the revised Posting of Workers Directive as well as the recent EU Directive on Minimum Wages signifies a paradigm shift in European employment policy that is geared towards a more socially balanced internal market.
Dieser Beitrag diskutiert aktuelle Entwicklungen der EU-Konsumpolitik am Beispiel des Green Deal. Er zeigt, wie Umwelt- und Verbraucher:innenpolitik in der EU zunehmend verzahnt werden. Zugleich macht er sichtbar, dass die antiquierte Vorstellung von mündigen, durchschnittlich informierten und umsichtigen Konsumierenden nun auch als Richtschnur zur Gestaltung von Maßnahmen im Schnittfeld von Umwelt- und Konsumpolitik dient. Im Anschluss an Befunde zu Einstellungen der EU-Bürger:innen zu Klimapolitik und Green Deal sowie zu Überlegungen der sozialen Praxistheorie wird hingegen für eine realitätsnahe Vorstellung von Konsumierenden plädiert. Eine solche Fundierung der Verbraucher:innenpolitik, so die These, ist eine grundlegende Voraussetzung, um die im Rahmen dieser Politik sowie des Green Deal anvisierten Ziele langfristig umzusetzen.
This article discusses current developments in EU consumer policy by using the example of the Green Deal. This demonstrates how EU‘s environmental and consumer policies are increasingly interlocked and that environmental policy goals can hardly be implemented without consumer policy. At the same time, in reference to the outdated idea of reasonable observant, well-informed and circumspect consumers it now also serves as a guideline for the design of measures at the intersection of environmental and consumer policy. Following the findings on EU-citizens‘ attitudes to climate policy and the Green Deal as well as considerations of social practice theory, a plea is made for a realistic conception of consumers that is close to reality. As is being argued in the outlook of the article, such a foundation of consumer policy is a fundamental prerequisite for the long-term implementation of the goals envisaged by consumer and Green Deal policies.
Die österreichische Bundespräsidentschaftswahl 2022 war in vielerlei Hinsicht bemerkenswert: Noch nie treten so viele Bewerber um das höchste Amt im Staat an, mehr als 40 Jahre ist es her, dass keine Frau auf dem Stimmzettel gestanden ist und viele Bewerber hatten ihre politische Heimat außerhalb der traditionellen Parteien. Der vorliegende Beitrag beleuchtet die Kandidaten, den Wahlkampf und das Wahlergebnis inklusive des Wahlverhaltens bei der Bundespräsidentschaftswahl 2022 im Vergleich zu jener 2016. Er leistet damit einen Beitrag zur Forschung zum Amt des Bundespräsidenten, die bislang wenig politikwissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren hat. Die Analyse der Bundespräsidentschaftswahl ist die Basis für unsere Überlegungen zur künftigen Ausgestaltung des Amtes des Bundespräsidenten: Wir argumentieren, dass die veränderte Kandidat:innenstruktur mit dem Wunsch der Bevölkerung nach einem aktiven Bundespräsidenten bzw. einer aktiven Bundespräsidentin einhergeht und diese Entwicklung den traditionellen Rollenverzicht bisheriger Bundespräsidenten auf eine harte Probe stellen wird. Eine Neugestaltung des Kräfteverhältnisses zwischen Bundespräsident:in und Regierung ist allerdings nicht in Sicht.
The Austrian presidential election, in 2022, was remarkable in many aspects: Never before have so many candidates fought for the highest political office, it is more than forty years ago that no female candidate was present at the ballot paper and many candidates were not supported by the traditional Austrian parties. The present article examines the candidates, the campaigns and the results including the voting behavior of the 2022 presidential election campaign in comparison to the 2016 campaign. It narrows the research gap on the Austrian president that has been largely neglected in the scholarly literature. The analyses of the current election are the basis for our reasoning on the future role of the presidency in the Austrian political system: We argue that the changing candidate structure is in line with a public wish for a more active president. This development will challenge the traditionally restrained manner of former presidents. However, a restructuring of the power relations between presidency and government is not in sight.