Häufig wird die Gegenwart in gesellschaftstheoretischen und zeitdiagnostischen Debatten als utopielos beschrieben. Furchtbilder, Niedergangserwartungen sowie apokalyptische und rückwärtsgewandte Erzählungen dominieren die Imaginationen von Zukunft. Wir nehmen diese zeitdiagnostische Beschreibung zum Ausgangspunkt, um zu zeigen, dass es trotz dieser Tendenzen falsch ist, die Gegenwart als utopieloses Zeitalter zu bestimmen. Diese, aber auch andere verbreitete (Fehl-)Annahmen zur Utopie unterziehen wir einer kritischen Prüfung. Gegen die These vom Ende der Utopie sowie die Fassung von Utopien als spezifisches Genre fiktionaler Literatur, als fortschrittlich-emanzipatorische Projekte und als europäisches Phänomen argumentieren wir für einen mehrdimensionalen, elastischen Utopie-Begriff und die Aufwertung der Utopie als Gegenstandsbereich soziologischer Forschung. Eine Soziologie der Utopie hat zum Ziel, als wünschenswert imaginierte Sozialverhältnisse und variierende Vorstellungen des guten Lebens differenziert zu analysieren sowie ihre Verankerung in der sozialen Praxis und Bedeutung für Veränderungsprozesse in Gegenwartsgesellschaften auszuloten.
In debates on social theory and contemporary diagnosis, the present is often described as devoid of utopia. Imagineries of fear, expectations of decline as well as apocalyptic and backward-looking narratives dominate the imaginings of future. We take this time-diagnostic description as a starting point to show that, despite these tendencies, it is wrong to define the present as an age without utopias. This but also other widespread (mis-)assumptions about utopia are subjected to a critical examination. Against these theses on the end of utopia as well as the version of utopias as a specific genre of fictional literature, as progressive-emancipatory projects and as a European phenomenon we argue for a multi-dimensional, elastic concept of utopia and the revaluation of utopia as a subject area of sociological research. A sociology of utopia aims at a differentiated analysis of social relations imagined as desirable and of varying ideas of the good life, and at exploring their anchoring in social practice and their significance for processes of social change in contemporary society.
Noch immer werden Zukunftsszenarien wie selbstverständlich mit dem Begriffspaar “Utopie” und “Dystopie” illustriert, um positive wie negative Entwicklungspfade aufzuzeigen. In einer zunehmend komplexen Welt bleiben diese Zukunftsbilder allerdings unterkomplex. Der Beitrag geht daher einen alternativen Weg: Er zeigt zunächst, wie Menschen auf multiple Krisen reagieren. Darauf aufbauend werden vier tpyische Zukunftserzählungen unterschieden und anhand von Beispielen illustriert. Grundsätzlich lässt sich derart ein angstgetriebenes Anpassungsverhalten von wunschgetriebenen Experimenten für eine bessere Welt unterscheiden. Vor diesem Hintergrund wird weiterhin darauf hingewiesen, dass es nicht ausreicht, rein kongitive und rationale Zukunftsszenarien zu entwickeln. Vielmehr ist die kollaborative Entwicklung von Zukunft eine mit Affekten verbundene soziale und kulturelle Praxis. Es ist daher notwendig, dieses emotionale Potenzial zur Motivation der kommenden Generation zu nutzen, um im Sinne eines visionären Pragmatismus zu besseren Löäsungen im offenen Labor Gesellschaft zu gelangen.
As a matters of course, future scenarios are still illustrated with the terms “utopia” and “dystopia”, so to show positive or negative developments. In an increasingly complex world, however, these images of the future remain under-complex. This article therefore takes an alternative approach. First, it is being shown how people react to multiple crises. Building on his, four typical future narratives are distinguished and illustrated by using examples. In principle, a distinction can be made between fear-driven adaptation behavior and wish-driven experiments for a better world. Against this background, it is further pointed out that it is not enough to develop purely cognitive and rational future scenarios. Rather, “doing future” collaboratively is a social and cultural practice linked to emotions. In the spirit of visionary pragmatism, it is therefore necessary to use this emotional potential to motivate the next generation in order to achieve better solutions for society seen as an open laboratory.
Am Ende des 20. Jahrhunderts formulierte eine Reihe von Wissenschaftlern eine Utopie des menschlichen Körpers. In ihren Visionen kleiden sie den menschlichen Körper in ein technologisches Gewand und verknüpfen ihn mit verschiedenen emergierenden Wissenschaften ihrer Zeit, darunter die Informatik und die Forschung zur künstlichen Intelligenz, die Neurowissenschaften, insbesondere die Erforschung der Gehirnstruktur, und die biotechnologische Entwicklung des Neurointerface, einer Schnittstelle zwischen Gehirn und Computer. Die präsentierten Visionen, bekannt unter dem Schlagwort “Transhumanismus”, spiegeln den Wunsch, den Körper mit Hilfe neuer Technologien zu erweitern. Dabei sind diese wissenschaftlichen Fiktionen keinesfalls als mögliche Zukünfte zu begreifen, sondern dienen als Projektionsfläche für aktuelle Sorgen und Hoffnungen und verweisen auf Vorstellungen des menschlichen Körpers, Weltanschauungen und kulturell tradierte Mythen. Dieser Essay diskutiert die utopischen Visionen, ihren Ursprung und kulturellen Konext, die dahinterliegenden Menschenbilder, sowie die Hoffnungen und Werte, die den Technologien in den Visionen zugeschrieben werden.
At the end of the 20th century, a number of scientists formulated a utopia of the human body. In their visions, they clothed the human body in a technological guise and linked it to various emerging sciences of their time, including computer science and research into artificial intelligence, neuroscience, in particular research into brain structure, and the biotechnological development of the neurointerface, a connection between the brain and the computer. The visions being presented here, known as “transhumanism”, reflect the desire to expand the body with the help of new technologies. These scientific fictions are by no means to be understood as possible futures, but rather serve as projection surface for current concerns and hopes and refer to ideas of the human body, world views and culturally traditional myths. This essay discusses the utopian visions, their origins and cultural context, the images of humanity behind them and the hopes and values attributed to the technologies.
Die Frage, ob und inwieweit das Grundeinkommen als “Utopie” zu bezeichnen ist, wird anhand der eigentlichen gesellschaftlichen Bedeutung dieser Orientierung erklärt. Der Autor vertritt dabei die These, dass das Ziel des Grundeinkommens primär nicht in der Vermeidung von Armut oder in einem verbesserten Sozialstaat besteht, sondern ein qualitativ neues Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft anstrebt. Die Gesellschaft soll existenzsichernd, bedingungslos, personenbezogen und allgemein allen Menschen eine ökonomische Basisexistenz sichern. Das ist das eigentlich Innovative des Grundeinkommens, das auch erklärt, warum MillionärInnen, die es doch nicht “benötigen”, so die Kritik, erhalten sollen. Diese neue Qualität wird anhand der Kritik zweier oftmals erhobener Einwände expliziert: Das Grundeinkommen sei ungerecht und es berücksichtige nicht die intrinsischen Werte der Lohnarbeit. Da das Grundeinkommen die grundlegenden Formen und Institutionen der Vergesellschaftung unangetastet lässt, zugleich jedoch ein qualitativ neues Moment der gesellschaftlichen Verhältnisse verwirklicht, kann vom Grundeinkommen in einem schwachen Sinne als “Utopie” gesprochen werden.
The question of whether and to what extent the basic income can be described as a “utopia” is explained on the basis of the actual social significance of this orientation. The author argues that the primary aim of the basic income is not to avoid poverty or to improve the welfare state, but to achieve a qualitatively new relationship between the individual and society. Society should ensure a basic economic existence for all people in any that secures their existence, so to say unconditionally, personally and generally. This is what is actually innovative about the basic income, which also explains why millionaires who do not “need” it should receive it. This new quality is explained rooting on the criticism of two often raised objections. The basic income is unfair and it does not take into account the intrinsic values of wage work. As the basic income leaves the fundamental forms and institutions of socialization untouched, but at the same time realizes a qualitatively new aspect of social relations, the basic income may be considered a “utopia” in weak sense.
Die Degrowth-Bewegung diskutiert in den letzten Jahren zunehmend darüber, wie “Reale Utopien” als institutionelle Weichenstellungen für eine sozial-ökologische Transformation realisiert werden können. Dieser Beitrag widmet sich der Frage, welche Strategien wie und von wem umgesetzt werden sollten, um solch einen Systemwandel zu bewirken. Wir argumentieren, dass in strategischen Überlegungen auf analytischer Ebene sowohl konstruktivistische als auch materialistische Perspektiven auf gesellschaftliche Transformationen berücksichtigt werden müssen, und stellen diese Perspektiven kurz vor. Ebenso müssen organisatorische Fragen einbezogen werden, um erfolgreich zu einem systemischen Wandel beizutragen. Eine Herangehensweise, die gesellschaftsanalytische und organisatorische Perspektiven kombiniert, kann Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen dabei unterstützen, ihre Strategien zu reflektieren. Eine transparente Struktur ist außerdem entscheidend, um den Aufbau von Allianzen der Degrowth-Bewegung mit anderen sozialen Bewegungen zu erleichtern.
In recent years the Degrowth movement has increasingly been discussing how “Real Utopia” as institutional markers of a social-ecological transformation can be realized. This article is dedicated to the question of which strategies should be implemented, how, and by whom, in order to bring about systemic change. We argue that in strategic deliberations on an analytical level both constructivist and materialist perspectives on social transformations should be considered. Organizational issues within the Degrowth movement must also be taken into account in order to successfully contribute to systemic change. An approach that combines analytical-strategic considerations with organizational-strategic considerations can help researchers and activists to reflect on their strategies. Additionally, a more transparent internal structure is crucial to facilitate the building of alliances between the Degrowth movement and other social movements.
Utopien heute, die eine gesellschaftliche Transformation beschreiben wollen, müssen zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit davon ausgehen, dass ein selbstverschuldeter Zusammenbruch der Weiterentwicklung der Menschheit möglich geworden ist. Reale, konkrete Utopien müssen den Weg zur Meisterung globaler Probleme zeigen, die zu einer Polykrise geführt haben. Die Besinnung auf alternative Wege des Zusammenlebens in der heutigen Zeit, welche die Polykrise überwinden können, ist die Kernaussage der sozialwissenschaftlich-philosophischen Strömung des Konvivialismus. Der vorliegende Essay stellt eine Interpretation konvivialistischer Ideen vor, die auf die gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen zueinander, zur Natur und zur Technik abstellen, deren Entwicklungslogiken Defizite aufweisen. Sie müssen daher durch Logiken ersetzt werden, die eine notwendige Selbstbegrenzung einleiten können. Nur so ist eine gemeinsame Menschheit möglich.
Utopias of today that are interested in describing social transformation, they are in a position having to assume that, for the first time in human history, a self-inflicted collapse of the further development of humanity appears to be possible. Therefore, real, concrete utopias must show the way of mastering global problems that have led to manifestations of polycrisis. Reflecting on alternative ways of living together, indicating how to overcome polycrisis, resembles the core message of the social-scientific and philosophical current of convivialism. This essay demonstrates an interpretation of convivialist ideas that focus on social relationships of people to each other, furthermore to nature and technology, and the deficits of technological logics. There is a need for new logics, implying necessities for self-limitation. Self-limitation represents a basic idea of convivialism. Only in this way is a common humanity possible.